Maria Montessori, geboren in Italien, lebte von 1870 bis 1952. Sie war Ärztin und Pädagogin.
Durch Studium, Beobachtung und Reflexion gewann sie Erkenntnisse über den kindlichen Selbsterziehungsprozess und schuf eine pädagogische Philosophie und Praxis, die bestimmt war von der Achtung der Person und ihrer Selbstbestimmung und vom Bewusstsein der Verantwortung für die Welt.
Entscheidend war, dass unter ihrer Anleitung Kindergärten und Schulen gegründet wurden, die aus ihren Erkenntnissen praktische Konsequenzen zogen. Dadurch wurden neue Unterrichtsformen und didaktisches Arbeitsmaterial entwickelt, die dem kindlichen Forschungs- und Entwicklungsdrang Raum gaben und selbstbestimmtes Lernen ermöglichten. Durch die Umsetzung ihrer Ideen in die Praxis und durch Ausbildungskurse in vielen Ländern der Welt schuf Maria Montessori für alle interessierten Pädagog*innen die Möglichkeit, ebenfalls die neuen Unterrichtsformen und Arbeitsmittel kennenzulernen. So wurde das Konzept der Montessori-Kindergärten und -Schulen vielfältig erprobt und gesichert; Montessori-Einrichtungen sind auf der ganzen Welt verbreitet.
Mit der von Maria Montessori und ihrem Sohn Mario gegründeten Association Montessori Internationale (AMI), Sitz Amsterdam, arbeiten Montessori-Gesellschaften und -Vereine aus allen Kontinenten zusammen.
(Aus: Barbara Stein und Fachgruppe „Theorie“ der Dozentenkonferenz der deutschen Montessori-Vereinigung e.V., Stand 2003)
Reformpädagogischer Kontext
Im Zuge vielfältiger Bestrebungen zur Umgestaltung des Lebens, die aus einem Unbehagen an der gesellschaftlichen Situation entstanden waren, entwickelte sich zum Ende des 19. Jahrhunderts neben anderen Strömungen auch die vehemente Kritik am Erziehungswesen und der damit einhergehenden Bildungspolitik. Die unterschiedlichen Konzepte für eine neue Erziehung wurden unter dem Begriff „Reformpädagogik“ zusammengefasst. Die Staatspädagogik des 19. Jahrhunderts wurde durch diese Ansätze in Frage gestellt. Dies bedeutete eine Abkehr von der Buchschule und dem Auswendiglernen. Der Kindheit wurde ein Eigenwert zugestanden, zu der ein eigener Lebensabschnitt gehört.
Diese Erneuerungsbemühungen waren nicht auf Deutschland beschränkt. In den meisten europäischen Ländern, aber auch in den USA, gab es diese Strömungen. Neben Maria Montessori (1870-1952) in Italien gelangten Celestin Freinet (1896-1966), Peter Petersen (1884-1952), John Dewey (1859-1952) und Rudolf Steiner (1861-1925) zu internationaler Geltung. Das Hauptziel der Erziehung war die Ausbildung und optimale Förderung der kindlichen Persönlichkeit, nicht wie bisher die Anhäufung von abfragbarem Wissen.
Das erste Kinderhaus 1907
Der 6. Januar 1907, an dem das „casa dei bambini“ (Kinderhaus) in Roms Elendsviertel San Lorenzo eröffnet wurde, war gewissermaßen der Beginn des Siegeszuges der heute weltweit verbreiteten Montessori-Bewegung. Ein einziger Raum für fünfzig und mehr Kinder im Alter von drei bis sieben Jahren, eine Aufsichtsperson, kaum Spielzeug… Maria Montessori besuchte die Kinder, wann immer sie konnte – neben ihrer Arbeit als Ärztin und Dozentin, neben Lehre, Forschung und Praxis.
Maria Montessori hatte zwar schon vor diesem Kinderhaus – heute sagen wir Kita – erste pädagogische Erfahrungen bei der Arbeit mit sozial deprivierten Kindern gesammelt. Angeregt durch die sehr schwierigen sozialen Verhältnisse in großen Teilen Italiens engagierte sie sich in der Frauenbewegung und hielt auf dem internationalen Frauenkongress 1896 in Berlin eine viel bewunderte und zitierte Rede. Doch von 1907 an nahm Maria Montessoris Leben eine andere Richtung. Aus der Ärztin mit Doktortitel und intensiven sozialreformerischen Ideen wurde von diesem Jahr ab eine engagierte Pädagogin mit einer völligen Hinwendung zur Sache des Kindes.
Maria Montessoris Zuordnung zur Reformpädagogik ist durch das Spannungsverhältnis von Erziehung und Bildung gekennzeichnet. Ihr Interesse galt vordergründig nicht der Reform der Schule sondern der Erziehung allgemein – von der Geburt bis zum Erwachsenenalter. Dabei postulierte sie ein einheitliches Zusammenspiel von Elternhaus und den verschiedenen Erziehungsinstitutionen bezogen auf die Zielrichtung der Erziehung.
Im Rahmen ihrer Tätigkeit als Assistenzärztin an der Psychiatrischen Klinik in Rom kam Montessori ab 1896/97 erstmals mit pädagogischen Fragestellungen und Problemen in Berührung. Durch die Arbeit mit diesen Kindern wurde sie darin bestätigt, dass eine anregende Umgebung, die Ausbildung und Verfeinerung der Bewegung und der sinnlichen Wahrnehmung diese Kinder eher in ihrer Entwicklung förderten als rein medizinische Maßnahmen.
Ähnliche Gedanken hatten die beiden französischen Ärzte Itard (1774-1838) und Seguin (1812-1880) schon einige Jahrzehnte vor ihr postuliert. Seguin stellte die These auf, die tätige Hand fördere die Intelligenz. Dazu entwickelte er Übungsmaterialien, die Maria Montessori inspirierten, ihr eigenes didaktisches Material zu schaffen. Als sie 1907 die Gelegenheit zur Eröffnung des Kinderhauses für 50 noch nicht schulpflichtige Kinder in einem Armenviertel Roms bekam, wendete sich ihr Interessengebiet zur Pädagogik hin und die eigentliche Montessori-Bewegung begann.
In dieses Haus für Kinder brachte sie ihr bisher entworfenes Material, verfeinerte, modifizierte und systematisierte es und entwarf, durch die konsequente Beobachtung der Kinder angeregt, zusätzliches. Die Kinder zeigten große Freude am Lernen, waren konzentriert bei ihrer Tätigkeit; sie waren ernsthaft, erfolgreich und wurden selbstbewusster. Hospitantinnen kamen anfänglich aus ganz Italien, zunehmend aber auch aus allen europäischen Ländern und den USA.
Verbreitung der Pädagogik
1909 schrieb Montessori ihr erstes pädagogisches Buch, in dem sie ihre Methode und ihr Material erläuterte. Es wurde 1913 in deutscher Sprache unter dem Titel „Selbsttätige Erziehung im frühen Kindesalter“ veröffentlicht. Dieses Werk erlebte mehrere Überarbeitungen und liegt heute unter dem Titel „Die Entdeckung des Kindes“ vor. Inhaltlich geht es um die Entdeckung, dass das Kind – wenn man ihm interessantes Material gibt, das es fasziniert – zu einer besonderen Form der Konzentration (Maria Montessori nennt sie Polarisation der Aufmerksamkeit) fähig ist.
Montessori wies nach, dass die auch heute noch verbreitete Auffassung von der Unstetigkeit kindlicher Handlungen ein Trugschluss ist. Denn wenn ein Kind von einer Sache gefangen genommen wird, versenkt es sich in eine besondere Form der Konzentration, die das Kind ausgeglichener und ruhiger werden lässt. Montessoris gesamtes pädagogisches Wirken war auf die Bedingungen für die Wiederholbarkeit der Polarisation der Aufmerksamkeit gerichtet.
Parallel zur Eröffnung weiterer Kinderhäuser in Italien hielt Montessori Ausbildungslehrgänge zu ihrer Pädagogik zuerst nur in Italien und später in vielen Ländern ab. Sie pendelte zwischen ihrem Wohnsitz Barcelona, Italienaufenthalten und vielen Reisen (Vorträge, Lehrgänge) in Europa (Ehrendoktorwürde in Durham, England) und in den USA. Zunächst vertiefte sie natürlich ihre Beziehung zu ihrem Sohn, der sie inzwischen fortwährend begleitete und in ihr Werk und Denken hineinwuchs. Der in Italien beginnende Faschismus berührte auch die sich in Italien ausbreitende Montessori-Pädagogik. Die faschistische Idee, die Montessori-Pädagogik ideologisch zu instrumentailisieren, gelang allerdings nicht. In dieser Zeit schrieb Montessori u.a. ein Werk zur religiösen Erziehung („I bambini viventi nella chiesa“ 1922) und zwei mathematisch-didaktische Werke („Psico Arithmetica“ und „Psico Geometrica“).
Eine wichtige Station Montessoris war Wien, wo sie mit Anna Freud, der Tochter Sigmund Freuds, Kontakt fand. Wie viele andere wissenschaftliche Strömungen wurden so auch psychoanalytische Ideen von Montessori aufgenommen (K. Jühlke: Montessori und Freud. Diss. Münster 1980). Zu größerer Verbreitung und Bedeutung gelangte auch ihr Buch „Kinder sind anders“ („Il segreto dell’infancia“ 1938).
Es war u. a. der spanische Bürgerkrieg, der Montessori veranlasste, Spanien zu verlassen und Wohnsitz in den Niederlanden zu nehmen, wo sich (nach Berlin) auch der Sitz der weltumspannenden Montessori-Organisationen (AMI) befand.
Maria Montessori in Indien
Im Sommer 1939 begab sich Maria Montessori zusammen mit ihrem Sohn Mario auf Einladung der Theosophischen Gesellschaft hin auf Seereise nach Indien.
Noch auf See erhielt sie die Nachricht vom Beginn des 2. Wertkrieges. Indien, das damals zum Machtbereich Englands und damit zum Kriegsgegner der Achse von Hitler-Deutschland und Mussolini gehörte, internierte die beiden feindlichen Ausländer.
Maria Montessori erhielt Hausarrest, Mario wurde gefangen genommen. Als Geschenk der indischen Regierung zu ihrem 70. Geburtstag wurde Mario Montessori im August 1940 entlassen und lebte von da an bis 1946 mit seiner Mutter zusammen in Indien. Beide konnten sich frei bewegen, durften das Land aber nicht verlassen. Mit vielen namhaften Persönlichkeiten trafen sich die Montessoris, so u. a. mit Tagore, Gandhi und Nehru.
Sie führten in verschiedenen Teilen Indiens und Kaschmirs Ausbildungslehrgänge durch und gründeten eine Montessori-Schule. Ihr Arbeitsschwerpunkt lag auf der Erarbeitung einer Konzeption zur „Kosmischen Erziehung“, einem Bildungskonzept, das natur-, sozialwissenschaftliche und religiös-moralische Perspektiven zu integrieren versucht. Außerdem widmete sich Maria Montessori der Kleinkinderbeobachtung und zog daraus entwicklungspsychologische Schlüsse, die sie 1948 in Madras/Indien veröffentlichte. Der deutsche Titel lautet „Das Kreative Kind“.
Die letzten Jahre
Bis in die letzten Lebensjahre hinein war Montessori rastlos auf „pädagogischen Missionsreisen“ und man könnte den Eindruck gewinnen, dass die Welt, und besonders das physisch wie seelisch beschädigte Europa, nach dem verheerenden Krieg auf sie gewartet haben, damit der pädagogische Neubeginn einer Friedensepoche beginnen konnte.
So reiste sie fast ununterbrochen z. B. in Indien, Ceylon, Pakistan (1949), zum Montessori-Kongress in San Remo (1949), durch die skandinavischen Länder (1950) und hielt Vorträge in Perugia, wo sie von der Universität zugleich zur Professorin ernannt wurde. Sie war Mitglied der UNESCO-Konferenz in Florenz (1950), führte 1951 einen Kurs in Innsbruck durch und begleitete im gleichen Jahr ihren letzten Kongress in London. Unermüdlich war sie bis in ihre letzten Jahre auch schriftstellerisch tätig, z. B. „What You Should Know About Your Child“ (1949), eine kurze Synthese ihres Denkens.
Zum Lebensabend wurde sie von Anerkennungen und Ehrungen überhäuft: Das französische Kreuz der Ehrenlegion (1949) wurde ihr vom Rektor der Sorbonne in Paris überreicht. In Perugia, Ancona und Mailand wurde sie zur Ehrenbürgerin ernannt (1950). Der italienische 1000-Lire-Schein wurde mit Montessoris Portrait gestaltet.
Hoch geehrt wurde sie auch in den Niederlanden, wo sie ihren Wohnsitz in Nordwijk aan Zee nahm. Montessori wurde von der Universität Amsterdam mit dem Ehrendoktor und als außerordentliche Hochschulprofessorin gewürdigt und mit dem Orden von Oranien und Nassau ausgezeichnet. Ihre Nominierung zum Friedensnobelpreis blieb leider folgenlos, zeigt aber doch an, daß Maria Montessori als Kosmopolitin der Pädagogik und des Friedens ihren festen wie verdienstvollen Platz in der Geschichte gefunden hat.
Am 6. Mai 1952 starb Maria Montessori in Nordwijk aan Zee. Auf ihrem Grabstein auf dem katholischen Friedhof lesen wir: „Io prego i cari bambini che possono tutto di unirsi a me per la costruzione della pace negli uomini e nel mondo.“ („Ich bitte die lieben Kinder, die alles können, mit mir zusammen für den Aufbau des Friedens zwischen den Menschen und in der Welt zu arbeiten.“)